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Walter Riedl - Casti

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;) Lieber Heimo! Lieber Mandi!

Ich sende dir nun meinen Text über eines der schönsten Plätzchen unserer Erde!

Ich habe darin zwei Vettoreflüge verarbeitet und eine poetische Geschichte erdichtet. Insgesamt habe ich dafür ca. 20 Stunden gebraucht.....

Wenn es auch nicht ganz einfach war, so habe ich doch meinen Höhepunkt des Jahres wieder in Casti erlebt!

Bitte stelle den Text auf deine Homepage, damit ihn vor allem die Castelluccoflieger lesen können.

Ich stelle ihn auch gerne für das Clubinfo zur Verfügung und würde mich darüber sehr freuen! Nicht alle Flieger haben Internet. Außerdem ist der Text meines Erachtens sehr geeignet, um im Info abgedruckt zu werden. Ich glaube, dass ich manch Fliegerseele gut getroffen habe.........

Der Text ist anstelle eines Fotos gedacht. Die Idee darüber reifte schon im Vorjahr. Der letzte Flug gab dazu die Triebfeder!

Die Schwierigkeit beim Beschreiben: Im Gegensatz zum Bild, das alles auf einmal nebeneinander zeigt, ist das sprachliche Hintereinander der Sätze.

Aber wie du sehen wirst, ich habe mich wie beim Fliegen wirklich sehr bemüht.

Mit lieben Fliegergrüßen

Walter




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Der Schatz der Kaldera


Aus dem Italienischen: Übersetzung Latino Salsicce


Jede Geschichte hat einen besonderen Anfang. Die Anfänge können eine Aufgabe, ein Rätsel, ein Zauber, ein Traum, ein Versprechen oder einfach eine Lüge sein. Diese Geschichte beginnt mit einer Lüge und einem Versprechen:
Mitten am Marktplatz des verträumten italienischen Fliegerdörfchens Castellucco stand ein alter, uriger Panini-Stand, der vom großen Meister Latino geführt wurde. Latino gehörte noch zu jenen alteingesessenen Italienern, die soviel Deutsch verstanden, dass sie die wesentlichen Parameter für das Flugwetter wie Wind, Sonne, Wolken, Regen und Schnee übersetzen konnten. Der stoisch ruhige Mann mit der Zehn-Dioptrienbrille wusste immer, dass es zum Fliegen besser werden würde. Ob noch heute oder wann genau, das ließ er immer geheimnisvoll offen. Sein Geheimnis war auch das Bleiben, Verweilen und Sein in diesem zeitlosen Dahinfließen mitten in den Sibillinischen Bergen am Fuße des mächtigen Monte Vettore, der wie ein großer Mahner über eine riesige Hochebene thronte.
Zeit spielte für Latino nur die eine Rolle: Er hatte sie. Seine Langsamkeit konnte weder weniger werden noch durch geschäftig palavernde in- und ausländische Touristen, die Linsen und Nudeln suchten, beschleunigt werden. Latino hatte nur eine Gleitzahl, und die entsprach der des geringsten Sinkens eines Fluggerätes: Kurz vor dem Stall, also dem erwünschten oder unerwünschten Abriss der Strömung! Aber er bewegte sich. Er war herrlich in der Welt.
Die Geschwindigkeit seines Servierens glich der Gelassenheit seines Schauens.
Er servierte gegrillte Panini con Salsicce mit einem Becherchen Vino Rosso, der verflüssigten Vergangenheit in einem Plastikwegwerfbecher, als Abbild für Dolce Vita und Dekadenz. Er schnitt bedächtig einen stark riechenden Schafskäse zur Verkostung auf, legte ein paar Oliven dazu und stellte neugierige Fragen über das Fliegen.
Wie das bei Fischern, Jägern, Surfern, Golfern und Fliegern eben so ist, neigten die Gäste zur maßlosen Übertreibung der erflogenen Höhen, Zeiten und Kilometer, die mit zunehmendem Vino Rosso immer größere Ausmaße annahmen.
Was der kleingewachsene Latino schon von den Fliegern erfahren hatte, war, dass man nach der Überhöhung des Monte Vettore so in etwa 2.600 m östlich in eine gewaltige „Kaldera“ sah. Darin befanden sich zwei wunderbare türkisfarbene Seen. Der Lacus Pilatus und der Lacus Diavolo. Hatte man als Flieger diese Seen gesehen, so galt der Monte Vettore als bezwungen. Das war sozusagen wie bei den Bergsteigern das Erreichen des Gipfelkreuzes und eine besondere Ehre. Fast eine goldene Trophäe.
Latino wusste davon und fragte eines stark windigen Tages einen dieser auf Flugwetter wartenden verrückten Flieger: Haben Sie die Seen schon gesehen?
Nun sind wir an dem Punkt angelangt, an dem die stolze Fliegerseele ja sagen muss, ja, im Vorjahr habe ich es geschafft, aber heuer leider noch nicht. Vento! Abbastanza vento. Volare non possible, versuchte der Pilot zu erklären.
Weil jedoch die Kenntnisse im Italienischen nicht ausreichten, diesen feinen Unterschied zum Vorjahr auszudolmetschen, begnügte sich besagter Flieger mit einem allgemeinen immergültigen stolzen „Si! Si!! Und so nahm denn diese Geschichte ihren unaufhaltsamen Lauf!
Von der Dioptrienbrille anvisiert und den dahinterliegenden Augen aufs Schärfste fokussiert, schoss die Frage messerscharf heraus: Wieviel Wasser ist in den Seen? Ist der See voll mit Wasser oder ist alles Wasser weg? Wenn genug Wasser drinnen ist, verbinden sich beide Seen, so wie sich ein Liebespaar umarmt und in inniger Verbindung ist. „Quanto?“, fragte Latino noch einmal.
„Si, si“, war die Antwort und ein betretenes Lächeln folgte. „Ha, ha, oh, aqua? Si, si, ah, quanto? Oh, äh, (und hier kommt wieder die stolze Fliegerseele ins Spiel) MEZZO! ABBASTANZA MEZZO“. Und das sagte er nun mit dem gewissen Nachdruck, sodass es der Fragende als wahr hinnahm. Der Flieger wusste es nicht, weil er in diesem Jahr noch nicht oben gewesen war und weil er sich in den Jahren zuvor noch nie auf den Pegelstand der Seen konzentriert hatte. Dort oben konzentrierte man sich als Flieger auf das Lee, auf die Abrisskante, Windrichtung und Stärke, GPS, Steigwerte und Höhe, aber auf den Wasserstand nicht. Variometer schon, aber nicht Ombrometer! Sollte Latino doch seine Bergsteiger fragen. Die badeten sogar in den Seen, aber genau das wollte er vom Überflieger wissen! Wieviel Wasser? Quanto?
„Mezzo!“ lautete noch einmal die Lüge. Und schon hatte die Lüge kurze Beine.
„Tu expert?“, fragte Latino anerkennend. Durch diese zuströmende Wärme, den Respekt und durch diese entgegengebrachte Achtung, dass man als Flieger sogar am Boden schon als Profi erkannt wurde, formten die Lippen des Piloten wieder das herrliche italienische „SI“. „Abbastanza expert!“ Si!
Latino wurde in diesem Augenblick still und winkte den Flieger näher zu sich, so, als wollte er ihm etwas ins Ohr flüstern. Der Flieger hörte aufmerksam zu.
„Meine Frau hat heute Geburtstag. Ich würde ihr gerne etwas Besonderes schenken. Bitte bringen Sie mir ein Foto von den halb vollen Seen wie sie sich umarmen. Das würde ich ihr gerne schenken! Wenn Sie das für mich tun, bekommen Sie von mir eine Abschrift des Textes über den Erstflug auf den Monte Vettore! Er stammt von unserem großen Heimatdichter und Piloten, dem POETA VOLARE Valtorre Hämorrhiedl. Er ist wahrlich ein Poeta und kein Scribere! Wir haben nur zwei Exemplare im Museum, und eine Exemplar besitze ich. Das schenke ich Ihnen, wenn Sie mir das Foto bringen. Tu expert, tu abbastanza expert! Bitte bringen Sie mir ein Foto! Für meine Frau! Mamma mia! Wie sie immer zu sagen pflegt. Mamma mia.
Dass Lügen kurze Beine haben, wissen wir. Und das wusste auch unser Flieger. Er hatte eine ehrgeizige Fliegerseele mit Hunger nach Endorphin, Adrenalin und Testosteron. Und er hatte auch eine Fliegerehre. Er gab Latino das Versprechen ab, ihm ein Foto von den verbundenen Seen zu schenken. Halb voll. Abbastanza mezzo! Andiamo!

Nun schicken wir ihn auf den Forca di Presto, den sanften Startberg in dieser phantastischen Kraterlandschaft. Wir machen die Thermik gnädiger und den Wind moderater! Nach geglücktem Start schicken wir unseren Helden nun in Richtung Monte Vettoretto, von wo aus er von kräftiger Thermik auf 2.700 Meter Höhe getragen wird. Weil er es will und weil er es kann, wird er das versprochene Foto schießen und das Geheimnis der Seen, nämlich ihren Wasserstand, fotografieren. Er wird das Foto am Abend im Ristorante Sibilla dem überglücklichen Latino übergeben und folgenden Text nach ein paar Grappa ausgehändigt bekommen:
Nach zähem Ringen mit der blubbernden Thermik komme ich langsam hoch. Die Schottergrube am Fuße des Monte Vettoretto hat mich gnadenhalber hochkommen lassen. Die Senke sieht weiter oben aus wie der Schoß einer Frau, der noch schöner sein kann. Wenn der Vergleich auch ein wenig hinkt, aber Energie spendet er genug, um meterweise hochzukommen. Die Rippen des Monte Vettore, die aussehen wie Tränengräben eines Giganten, bilden ideale Abrisskanten. Hoffentlich lassen sie mich nicht im Stich. Ich steuere nach einer langen Sinkphase geradewegs auf die Rippe unter der Nase zu. „Beachte nicht die Sorgen in deinem Kopf, sondern achte auf die Freude in deinem Herzen!“ (aus: Kampf der Kobolde) , sage ich mir und schon zieht ein 1 Meterprosekunde Bart an. Es beginnt ein zartes aber stetes Heben, das ich mit kontinuierlichen Kreisen beantworte. Das Zentrieren wird zum Spaß, weil es die Welt kleiner werden lässt und den Horizont größer. Es dauert nicht lange und die „Nase“ des Vettore, ein großer Felsvorsprung, ist überhöht. Die Höhe beträgt nun 2.200 Meter.
Die Luft wird satter, die Bärte ziehen stärker an. Das Steigen wird kräfiger. Es geht mit 4 Meterprosekunde himmelwärts. Es ist ein herrliches Getragen-Werden! Ich ziehe die ersten Kreise über den steinigen Erker des Vettore. Die Nase erinnert mich an den Gesteinsabbruch im Ringgebirge Plato auf dem Mond. Auch sie ist eine markante Stelle, die zur Beobachtung und zum Verweilen einlädt. Da habe ich einen ganzen Berg für mich. Aber dieser Fels zieht mich vorerst in seinen Bann. Darüber muss ich meine Kreise ziehen! Das Kreisen darüber erfüllt mich mit Genugtuung. Ich achte darauf, dass der Schatten meines Fluggerätes genau auf die Nase fällt. Langsam wird die Dachung dieses Berges steiler. Schließlich führt sie bis zum Grat hinauf, wo die entlangstreichende Luft endlich abreißt und die Thermik ihre stärksten Steigwerte annimmt. Darauf habe ich gewartet. Nun kann die Überhöhung des 2.456 Meter hohen Riesen beginnen. Am Grat angekommen, reißt es mich hoch. In Minutenschnelle bin ich 200 Meter höher und hinter dem Grat offenbart sich mir ein gigantischer Kessel.
Wie ein kesselartiger Vulkankrater, eine Kaldera, sieht die faszinierende Kulisse aus.
Sie erinnert mich an Mons Olympus, den höchsten Vulkan in unserem Sonnensystem. Der ist auf dem Mars zu finden und 25 Kilometer hoch. Gigantisch und majestätisch versteinerte Vergangenheit! Erhabener Fels!
Ostwärts der Kaldera steht noch ein Berggigant, fast wie das Spiegelbild des vermeintlichen Vettore, den ich gerade bezwungen glaubte. Die Dachung des steinernen Bruders ist noch erhabener und weitläufiger, gespickt mit parallel zum Talboden laufenden Wasser- und Steinrinnen, den grauen Spuren der ewigen Erdanziehungskraft, die wir Piloten erfolgreich überwinden können.
Da auf jenem das Gipfelkreuz steht, wird mir klar, wer von beiden nun der wahre Vettore ist. Das Grau und das Grün dieses riesigen Kegels mündet am Kesselboden in das Weiß des Schnees. Und nun erscheinen auch die im Sonnenlicht funkelnden Seen, von denen alle sprachen. Türkisblau, glasklar und wunderbar anzusehen. Wie ein Augenpaar liegen sie am felsigen Grund der Kaldera umgeben von ein wenig Schnee und den Hängen des Kessels. Der Lacus Pilatus und der Lacus Diavolo. Ich verweile bewusst vor der Kante, um immer wieder das Erlebnis des Erscheinens und Verschwindens der beiden Seen zu genießen. Spielerisch kreise ich so, dass der Grat die Seen verdeckt und mit zunehmender Höhe wieder freigibt. Als einige dunkle Wolkenschatten über die Seen ziehen, ist es so, als ob die Augen kurz ihre Lider schließen und mir zuzwinkern, ähnlich den Sternen am Abend, wenn sie flackern. Mit einer Höhe von 2.700 Metern fliege ich den langen schmalen Grat der Westflanke des Vettore ab. Nun genieße ich das Erlebte, das Gesehene, das Erhabene, das Schroffe, das Spiel mit dem Wind, unserem Verbündeten, und das Geplante, das erst durch mein Bemühen, Ringen und Zutun möglich wurde und zum Glück führt. Bis auf 2.800 Meter lasse ich mich tragen. Ich bleibe direkt über dem Grat und fliege nicht in den Kessel ein. Die Vorsicht verlängert das Leben. Und ich bin gerne vorsichtig! Ich beobachte die steilste Flanke des Vettore. Sie wirkt bedrohlich. Da möchte ich nicht ins Lee geraten! Einige Piloten können darüber recht amüsante Fliegergeschichten erzählen. Tief unten schmiegt sich das kleine Dörfchen Pretare in die steilen Flächen hinein. In diesem Bergdorf gibt es die Bar Vettore, in der meistens ein Gläschen Wein oder Grappa von den wenigen einheimischen Pensionisten getrunken und palavert wird. Ich erinnere mich an den Cappuccino, den wir an einem windigen unfliegbaren Tag getrunken haben und an die Sehnsucht und den Traum, über den Vettore zu fliegen. Nun erfülle ich mir diesen Traum! Ich folge in Richtung Norden dem Verlauf des Grates bis zum sanften Sattel, dem Forca Viola. Dann wende ich, um die Wiederholung des Schönen von vorne zu beginnen. Ich verweile im Äther und sauge den Odem dieses wunderbaren Kraters ein. Der Grat hat es mir nun angetan. Er sieht aus, wie eine schmale Trennlinie zwischen der westseitigen Steigung und der steil nach Osten abfallenden Flanke, die richtig bedrohlich wirkt. Mit stetem Steigen luge ich immer wieder über diese Linie, die zu überqueren Gefahr bedeutet, die jedoch mit zunehmender Höhe den Blick auf die Seen freigibt.
Wieder offenbaren sich mir diese funkelnden flüssigen Diamanten in ihrer vollen Pracht. Türkisblaues Rund und Oval umgeben von einem weißen Saum, dem Schnee, der noch in der Tiefe liegt.
Die beiden Seen sind über eine Wasserbrücke verbunden und erinnern an ein Liebespaar, das eng umschlungen daliegt und die Zeit still genießt.
Beim Anblick des Wassers fällt mir ein, dass ich ja Wasser dabei habe. Ich richte meinen Schlauch zurecht und sauge ein paar kräftige Schlucke aus dem Reservoir just in dem Moment, in dem ich die Seen anschaue. Es ist, wie wenn ich direkt aus dem Lacus Pilatus trinke. Es ist eine Wonne!
Wieder ziehen Wolkenschatten über den Grat. So flink wie diese projizierten Dunkelbilder die Hänge hinunter und wieder hinauf huschen, können Flieger nur im Lee hinauf oder hinunter gespült werden! Die Schatten verdunkeln die Kaldera vom schmalen Grat abwärts. Der schmale Scheideweg ist so zum Terminator zwischen Hell und Dunkel, zwischen Tag und Nacht geworden.
Die Trennlinie scheint wie eine Grenze zwischen Leben und Tod! So gesehen, blicke ich in das Reich des Todes. Türkisblau und schön ist es! So könnte es doch sein, aber wir haben alle Angst vor ihm, weil wir glauben, es sei finster! Kreisend und getragen von der am Hang entlang streichenden Luft fliege ich wieder der langen Kante entlang. Vereint mit den Kräften des Universums und gehoben vom Unsichtbaren. Der schmale Grat trennt das Erhabene und Sanfte vom Schroffen und Steilen. Die felsige Linie trennt das Sanfte vom Wilden, das Schwierige vom Leichten, das Weiche vom Harten, die Leichtigkeit vom Schweren, das Beeinflussbare vom Unbeeinflussbaren.
Sie scheint wie eine Grenze zwischen Gewissem und Ungewissem; das eine überschaubar und kalkulierbar, das andere undurchsichtig und dunkel!
Der Grat trennt das Gefährliche vom Gefahrlosen und vereint das Bedrohliche mit dem Sicheren zugleich! Er trennt die Dinge nicht, er vereint alles Sein.
Das vielgehügelte Land im Piano Grande schimmert im gleißenden Sonnenlicht. Kurz wandert mein Blick zur Sonne. Da erscheint wie verzaubert ein herrliches Sonnenhalo. Das weiße Licht unseres Muttersternes bricht sich an den Eiskristallen in großer Höhe und färbt die Wolken wie einen Regenbogen bunt. Unten im Piando Grande erkenne ich den Mäander, der von oben bizarr aussieht. Durch diesen Graben kann alles Schmelzwasser der Hochebene abfließen. Er ist die ästhetischste Drainage des Piano Grande. Er erinnert mich an das Vallis Schröteri, das berühmte Schrötertal, einen riesigen Lavakanal auf dem Mond. Eingebettet zwischen Sonne, Mond und umspült von herrlicher Luft gleite ich nun über das Piano Grande Richtung Castellucco. Die Luft will mich heute nicht loslassen. Es steigt sanft im Geradeausflug, sodass ich über das Dörfchen, das wie ein Adlerhorst aussieht, immer noch die Abflughöhe des Vettore habe. Ich sehe auf den Marktplatz und ziehe große Kreise. Jetzt weiß ich, dass ich über diesen Flug einen Bericht abgeben werde – und ihn werde ich Latino da unten schenken. Salute Latino!
Mit gigantischer Höhe steuere ich Richtung Süden und fliege in diese herrliche Ebene.
Der Zentralberg, La Rotonda, sieht aus wie ein kleiner Schmetterling mit angezogenen Schwingen. Ich grüße zum Spaß alle unsere gefiederten Freunde und sauge tief und bewusst Luft ein. Das bedachte Atmen unterstreicht meine unmittelbare und innige Verbindung mit dieser wunderbaren Welt.
Mir wird auch bewusst, dass ich hier und heute meinen Lebenskrater gefunden habe. Das Piano Grande ist der Kraterboden. Der Zentralberg ist La Rotonda.
Wie in jedem Leben gibt es süße und saure Prioritäten, Vergnügungen und Sachzwänge unserer Existenz, um die sich alles dreht und um die ich kreise, eben etwas Zentrales, das mein Leben ausmacht. Im Grunde befinde ich mich in einem Ringgebirge, dessen Kraterwall schützend die Ebene umgibt. So ähnlich schütze ich auch mein Leben oder lasse es beschützen.
Der Monte Vettore ist die größte Macht. Er steht symbolisch für etwas noch Höheres, etwas Göttliches, das in uns selbst und über uns ist. Hinter ihm wartet der Tod. Aber noch bin ich von den Hügelketten rundherum geschützt.
Noch brauche ich mich dieser letzten Herausforderung nicht zu stellen. Ich kreise um das Zentrum und spüre, wie meine Seele in die unendliche Weltenseele eintaucht. Mit jedem Kreis bin ich in dieser herrlichen Welt. Nach dem Tod werden unsere Seelen, die ein Teil der Natur sind, zum Wind, zum Fluidum des Himmels. Und im Hauch des Sommerwindes, im Lüftchen eines Herbstwindes, in den Strömungen der Thermik oder in einem Sturm werden wir wieder eins mit der Natur und manifestiert als Weltenseele, als unendliche Metamorphose!
Nach diesen verträumten, romantischen Gedanken bereite ich mich auf die Landung vor. Lange gleite ich entlang der Kette, die nach Norcia führt. Da ein Südwest weht, wird es vom Fontanille keine Leerotoren geben, und ich erwarte mir eine stressfreie Landung. Ich steuere in Richtung Pferdekoppel und beobachte den Windsack vor der Kreuzung am Campingplatz genau. Er steht stramm – und das freut mich. Mit den modernen Geräten lässt es sich unendlich lange gleiten. Ich genieße dieses sanfte Einschweben!
Die Landeeinteilung fällt äußerst großzügig aus. Im Endanflug reite ich auf einem herrlich ruhigen Luftpolster dahin. Der Bodeneffekt ist bei jeder Landung immer wieder etwas Beeindruckendes. Bei dem strammen Gegenwind drücke ich nur zart nach oben und setze sanft auf. Die Leichtigkeit wird nun von der Erdenschwere abgelöst. Ich jauchze nicht. Still und voller Freude stehe ich einfach da und genieße diesen Moment. Ich drehe mich um und schaue zum Vettore. Die Glücksgefühle nehmen meinen Körper ganz ein. Ich bin eins mit mir selber wie selten zuvor. Und dann das Gefühl der Unantastbarkeit! Jetzt kann da kommen, was wolle, ich bin nicht antastbar. „Abbastanza bene!“

Heute war ich Grenzgänger, Abenteurer und Philosoph! Heute bin ich mir selber wieder ein Stück näher gekommen. Dieser wunderbare Flug hat mir viel Selbsterkenntnis gebracht. Das Fliegen ist sicher eines der letzten Abenteuer unserer Zeit in der Natur und ein Weg zu sich selbst!
Mein Blick richtet sich nun auf den Panini-Stand mit der Bar. Ich weiß, dass ich da nach dem Abbau meines Fliegers ein Bier trinken werde.
Ein italienisches, weil es in 0,75 Liter Flaschen abgefüllt ist.... und nicht in 0,3 Liter Wegwerfflaschen.
Da kommen ein paar Bauern vorbei und grüßen mit „Salve“ und „Ciao“.
Ich grüße freundlich mit einem sonnigen Hallo zurück. Der Gruß fällt blumig und bunt wie das Sonnenhalo aus. „Ciaoooo“. Die Schafbauern freuen sich über die Freundlichkeit und interessieren sich, ob ich am Monte Vettore war. Ich sage „Si“, und ich weiß, dass es da oben zwei türkisfarbene flüssige Diamanten gibt: Zwei Seen, die halbvoll sind und sich wie Liebende umarmen! „Bella Italia!“
Die Landwirte tragen Hüte und haben während der Weidearbeit mit ihren Rindern und Schafen Pilze zum Essen gesammelt. „Funghi“. „Non Tartuffo“. Sie sehen ausgemergelt aus. Sie sind braungebrannt, unrasiert und ohne Hast. Sie sind in der Zeit. Und das bin ich auch! Arrivederci.“

Die italienischen Bauern und die Flieger von Castellucco erinnern mich an eine der schönsten Stellen in „Wind, Sand und Sterne“ von Antoine de Saint-Exupery und an jenen Flieger (W.M.), der mich auf diese Stelle aufmerksam gemacht hat! Und an jenen Flieger, der diesen Flug auch ermöglicht hat (R.E.). Grazie!


„ Die Erde schenkt uns mehr Selbsterkenntnis als alle Bücher, weil sie uns Widerstand leistet. Und nur im Kampfe findet der Mensch zu sich selber. Aber er braucht dazu ein Werkzeug, einen Hobel, einen Pflug. Der Bauer ringt in zäher Arbeit der Erde immer wieder eines ihrer Geheimnisse ab, und die Wahrheiten, die er ausgräbt, sind allgültig. So stellt auch das Flugzeug, das Werkzeug des Luftverkehrs, den Menschen allen alten Welträtseln gegenüber und wird uns zum Werkzeug der Erkenntnis und der Selbsterkenntnis.“


Text:
Valterro Hämorrhiedl (Pseudonym), Poeta, non Scribere.
Geschrieben Juni 2006 und Juni 2007.

Gewidmet all jenen, mit denen ich in Castellucco verweilen durfte und allen Fliegerfreunden!
Glück ab – gut Land!

Walter Riedl, Maggau, 8. Juli 2007
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